9. April 2019

Gastbericht von turus.net: Brandenburg Süd vs. Blau-Weiß 90 Berlin

Ja, ick weeeß. Der Begriff „Old School“ ist schon richtig abgedroschen und überstrapaziert worden. Old School, alles Old School. Wenn sich ältere Hauer mal kloppen – Old School. Wenn mal ohne Regeln was abgefackelt wird – Old School. Wenn ein Stadion mal kein Dach hat – Old School. Wenn sich richtig die Kante gegeben und sich anschließend im Zug in einer Lache abgelegt wird – erst recht Old School. Aber mal jaaanz ehrlich, die gestrige Auswärtsfahrt mit den Fans der Sp.Vg. Blau-Weiß 90 Berlin fühlte sich weiß Gott richtig Old School an. Ein beschwingte Sause ohne Sorgen und Stress. Ich war am Ostkreuz der Erste, der in den Regionalexpress nach Brandenburg an der Havel einstieg, und ich war abends rund neun Stunden später der Letzte, der wiederum am Ostkreuz ausstieg. Somit durfte ich den Fußballtag lückenlos miterleben. Und damit nicht wieder alles bierseelig verklärt wird, blieb ich komplett nüchtern. Alkfreies Weizen und Wasser waren angesagt. Auch wenn es – zugegeben – wahrlich schwer fiel, bei dem phantastischen Frühlingswetter nicht zur Pilsette zu greifen.

Seit September 2012 habe ich Blau-Weiß wieder auf dem Schirm. Damals wurde als krasser Außenseiter (Landesligist) im Berliner Pokal bei Tennis Borussia Berlin gespielt, etliche Blau-Weiß-Fans hatten sich mit Trommel auf dem Oberrang der Haupttribüne des Mommsenstadions eingefunden. Damals aufgehängt wurde auch die Fahne von Motor Eberswalde. Ich war beeindruckt von der Tatsache, dass einige Fans dem Verein noch immer die Treue hielten, obwohl 1992 wieder ganz unten in der Kreisliga C angefangen musste. Keine Fusionen, keine übernommenen Startplätze, mühsam musste sich Blau-Weiß wieder sportlich nach oben arbeiten. Die letzten fünf Jahre hatte ich Blau-Weiß punktuell immer wieder mal gesehen. Gegen Internationale Berlin, gegen SD Croatia Berlin, auswärts beim BSV Al-Dersimspor und bei Tasmania Berlin, usw.

Als der langersehnte Aufstieg in die Oberliga am Ende der vergangenen Saison gepackt wurde, machte ich auch nen Bierchen auf. Ich freute mich für die kleine Truppe, die bereits Ende der 1980er / Anfang der 1990er Jahre zu Zweitligazeiten zu Blau-Weiß 90 gegangen ist. Ich freute mich für den Mann mit dem Hund, der stets im eigenen Blau-Weiß-Trikot mit dabei ist. Für den Gladbacher und all die anderen Männer (und auch Frauen), die locker als „Old School“ durchgehen. Nach 27 Jahren endlich wieder überregional spielen. Beim ersten Auswärtsspiel zu Beginn der Saison war ich in Strausberg vor Ort. Das Spiel wurde verloren – es wurde trotzdem feuchtfröhlich gefeiert. Erst im siebten Spiel gelang der erste Saisontreffer. Auch dort war ich dabei. In Zehlendorf wurde mit 1:0 gewonnen, den frenetischen Jubel hatte ich gefilmt. Der Knoten war geplatzt, nach und nach kam Blau-Weiß 90 in die Spur.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass im Zug nach Brandenburg sogleich die sportliche Lage ausgewertet wurde. Man stelle sich mal vor, Blau-Weiß hätte von Beginn an so gespielt wie jetzt. Man wäre mit TeBe auf Augenhöhe. Wer hätte das für möglich gehalten? Prost! Und dann, die Frage in die Runde musste natürlich sein. Wer war damals in der Saison 1991/92 alles dabei bei den Auswärtsspielen bei Stahl Brandenburg? Die Hände erhoben sich wie in der Schule. Sechs, sieben Fans – allesamt Ü45 – kamen im Zug auf Anhieb zusammen. Die meisten von ihnen waren sowohl in der Hauptrunde als auch in der Abstiegsrunde dabei. Das seien derbe Zeiten gewesen. Nach dem Spiel kam eine Truppe Skins und schlug gleich drauf ein. Den Blau-Weiß-Fans wurde alles abgenommen. Geldbörsen, Schals, und und und. Lädiert saßen sie auf dem Bahnhof. Wenig später kam der vermutliche Ober-Skin vorbei und fragte, was geschehen sei. Abgezogen und verdroschen?! Das gehe gar nicht! Ruckzuck ging der Typ zu der Truppe Schläger, machte eine Ansage und brachte anschließend das ganze Zeug wieder zurück. Sich stellen und ein Match – jederzeit gern. Doch auf „normale“ Fans einzuprügeln, sei einfach ein Unding!

Krasse Kiste, dachte ich. In jener Zeit wohnte ich bereits drüben im Rheinland und erlebte dort das eine oder andere Wunder. Was allerdings Brandenburg an der Havel betrifft, habe ich auch richtig ekelhafte Erinnerungen. Auswärts mit dem BFC Dynamo zum Brandenburger SC Süd 05. Gefühlt fand ich mich dort zehnmal im Gästebereich ein. Real waren es vielleicht drei-, viermal. Richtig kacke war das Oberligaspiel im November 2010. Ich war mit meiner jüngeren Atze dort, tankte gut und lernte das erste Mal Frank Willmann persönlich kennen. Damals waren wir alle noch jünger und knackiger. Das Wetter war herbstlich, der Gästebereich war der echte Abturn. Unvergessen diese eingezäunte Wiese vor dem Gästeblock, auf der zwei mobile Klos und ein karger Imbissstand zu finden waren. Kalte Buletten erwärmten wohl kaum das Herz. Okay, noch ein Bier! Wenigstens das ging rein.

Nach dem Spiel wurde es richtig ungemütlich. Es wurden für die BFC-Fans zwei Sonderbusse bereitgestellt, und die anwesende sächsische (!) Polizei dachte sich wohl, man könne das Ganze einfach mal als Übungseinsatz nutzen. Bissel provozieren, ein bissel den Harten machen – und dann rein mit dem Pfefferspray in den Bus. Was für ein derber Unfug! Das abartige Spiel im Mommsenstadion lag gerade mal zwei Jahre zurück, und es kochte sogleich innerlich. Auf die Fresse! Einige BFCer mussten von ihren Kumpels zurückgehalten werden, und auch mein Bruder und ich waren nach all dem Alkohol gut auf Achse. Gut, dass sich die meisten Fans nicht aus der Reserve locken ließen, somit ging das Ganze dann doch noch vergleichsweise glimpflich aus.

Sagen wir es mal so, auf solch einen Quark hatte ich am gestrigen Sonntag wirklich keinen Bock, zumal ich den Sohnemann wieder mit an der Seite hatte. Auf diesen Gästeblock hatte ich auch keine Lust, doch wäre ich mit hineingegangen, um die ganze Sause komplett mitzunehmen. Aber es wurde eh alles anders als gedacht. Besser, viel besser. Jede Medaille hat zwei Seiten. Und auch das Stadion des Brandenburger SC Süd 05 lernte ich nun – im wahrsten Sinne des Wortes – von einer anderen Seite kennen.

Die Zugfahrt nach Brandenburg ging ratzfatz. Kaum ist man raus aus Berlin, ist es von Werder bei Potsdam bis Brandenburg Hauptbahnhof quasi nur noch ein Katzensprung. Die Ankunft erfolgte ganz klassisch. „Hurra, hurra, Blau-Weiß ist wieder da!“ Rund 20 Fans sammelten sich am Raucherplatz des Bahnsteiges. Ein Gruppenfoto, anschließend wurde sich nochmals mit Getränken und Wurst versorgt. Currywurst? Das war soeben die Letzte! Gut, dann ne Knacker! Hm, Knacker, ich auch eine! Das war die Letzte! Gut, dann ne Bocki! Fast alles aus. Meine Güte – und das um 12 Uhr mittags. Kurzes Warten auf dem Bahnhofsvorplatz und dann ging es mit dem Linienbus zum Werner-Seelenbinder-Sportplatz. Und ja, die Polizei ließ sich nicht blicken. Und das Beste: Am gesamten Fußballnachmittag in Brandenburg an der Havel bekamen wir keinen einzigen Uniformierten zu sehen.

Sich auswärts als kleine Truppe völlig frei bewegen zu können – in heutigen Zeiten wahrlich goldwert! Überpünktlich fanden wir uns am Haupteingang ein, und ich rechnete bereits fest damit, dass allesamt einmal um das Stadion geführt werden würden. Doch denkste, die ersten Blau-Weißen enterten das Stadion und schlurften gemütlich zum Biergarten. Nach und nach fanden alle den Weg durch das Tor. Mein neunjähriger Sohn musste seine drei Euro abdrücken (nicht überall haben Kids einen freien Eintritt), und der Älteste aus der Blau-Weiß-Truppe hatte Ärger am Einlass. Mit 82 Jahren (!) fährt der gute Mann noch immer ab und zu auswärts mit und trinkt dabei das Bier aus der Büchse. Als jedoch die Ordner meinten, mit der Plastikflasche Wasser käme er nicht rein, wollte er sogleich verärgert kehrt machen und meinte nur: „Dann schaue ich mir eben den Dom an. Ich habe nämlich gehört, dass dieser sehr schön sein soll…“

Am Ende wurde dann doch eine Lösung gefunden, und alle nahmen ihre Plätze vor dem Vereinsheim ein. Für mich alkfreies Weizen – für alle anderen den promillehaltigen Gerstensaft. Das fing doch schon mal wirklich angenehm an – und so sollte es auch bleiben. Kurz vor Spielbeginn wurde das eigentliche Stadiongelände betreten, und am hinteren Ende der überdachten Haupttribüne durften die am Ende rund 30 Blau-Weiß-Fans ihre Plätze einnehmen. Der eigentliche Gästeblock blieb geschlossen. Die Fahnen wurden angeknüpft und je nach Bedarf wurden Sonnen- und Schattenplätze ausgesucht. Auch der Hund mit dem Trikot war mit am Start – seine Mitnahme musste jedoch im Vorfeld angemeldet werden.

Das Stehen und Sitzen auf der kleinen Haupttribüne und auch das Gesamtambiente erinnerten ganz stark an irgendein Amateurspiel auf den Britischen Inseln. Auf die Idee wäre ich damals im eigentlichen Gästeblock nicht gekommen, doch gestern zeigte sich das Stadion halt von seiner sonnigen und zudem sehr gastfreundlichen Seite. Insgesamt waren es 227 Fußballfreunde, die den Weg auf die Ränge gefunden hatten. Sportlich sieht es derzeit nicht allzu dolle aus, der Abstieg in die Brandenburgliga droht. Und demzufolge ließ auch der Zuschauerzuspruch nach. Allerdings muss betont werden, dass zum ersten Heimspiel gegen Hertha 03 Zehlendorf auch nicht wirklich mehr Zuschauer vor Ort waren. Das sah vor neun Jahren noch etwas anders aus. Jammerschade, dass es in der Stadt Brandenburg fußballtechnisch nicht besser läuft. Der Stadtrivale FC Stahl Brandenburg ist ja sogar in der Landesliga verschwunden. Und nein, ein Derby würde es also somit in der kommenden (Brandenburgliga-)Saison nicht geben.

Richtig in der Spur ist derzeit indes die Mannschaft von Blau-Weiß 90 Berlin. Fünf der vergangenen sieben Partien konnten gewonnen werden. Am gestrigen Nachmittag kam der sechste Sieg im achten Spiel hinzu. Verloren wurde in den letzten zehn Spielen nur jeweils 0:2 bei Tennis Borussia Berlin und der TSG Neustrelitz. Apropos TeBe, dieser Verein scheint derzeit der größte Feind zu sein. Hertha – nun denn. Das erinnert die Alten halt an die alten Zeiten. An die ganz, ganz alten Zeiten. Unvergessen das Jahr 1986! Hertha stieg in die Oberliga ab und Blau-Weiß 90 stieg in die 1. Bundesliga auf! Von so was zehrst du als Fan ein Leben lang. Da können auch mal etliche Jahre Kreis- und Bezirksliga dazwischen liegen. Der harte Kern der Anhängerschaft ging seit 1992 durch Dick und Dünn – und darf nun endlich mal wieder richtig auswärts fahren.

Man spürte es, dass die gestrige Sause richtig gut tat. Strausberg zu Beginn der Saison, okay, das war dann doch nur irgendwie ein Ausflug mit der S-Bahn ins Umland. Aber Brandenburg, wo es einst die Auftritte bei Stahl gab, das ließ das Herz der Alten höher schlagen. Und ich? Ich freute mich einfach mit und filmte und filmte. Das musste einfach in aller Ausführlichkeit auf Bewegtbild festgehalten werden. Bereits nach zehn Minuten konnte Fabian Engel die Blau-Weißen mit 1:0 in Führung bringen. Gute Laune unter den 30 Fans. „Wo ist die Trommel?“, fragte der 82-jährige, der erfreut noch ein weiteres Bierchen trank. „Tja, man kann nicht alles haben im Leben“, erwiderte lachend einer der Jüngeren, der sonst meist für das Trommeln zuständig ist.

In der 25. Minute war das 2:0 für Blau-Weiß 90 Pflicht, doch zu überraschend gut wurde der Ball in den Strafraum gebracht. Vier Minuten später gab es Gelb-Rot für die Berliner, die restliche Stunde musste in Unterzahl bewältigt werden. Kein Problem. Noch vor der Pause wurde auf 3:0 erhöht. Zuerst war es Nicolai Kitzing in der 45. Minute und dann war es Pascal Matthias in der 45.+3. Minute, der die mitgereisten Fans jubeln und feiern ließ.

Da sollte nix mehr anbrennen. Nach einer Stunde erhöhte Maximilian Stahl auf 4:0 für Blau-Weiß 90. Nachdem allerdings Daniel Hänsch das 1:4 für „Südfeuer“ machte, rochen die Brandenburger noch einmal die winzige Chance, dass vielleicht doch noch was gehen könnte. Ein kurzes Aufbäumen erfolgte. Auf Gastseite wurde in der 73. Minute Nicolai Kitzing gefeiert, der ausgewechselt wurde. In der 82. Minute kam Jeffrey Gleisinger für Kevin Gutsche ins Spiel – und auch diese beiden Spieler wurden lautstark bejubelt. Und siehe mal einer an: Guilherme Henrique Lopes de Oliveira, der für Kitzing ins Spiel kam, machte auch noch ein Joker-Tor. 5:1 in der 89. Minute für die Südberliner.

„Es kommt die Zeit, in der die Hertha untergeht…“ sowohl das bekannte „Heja Blau-Weiß!“ wurden nun zum Besten gegeben. Abpfiff – der blendend herausgespielte Auswärtssieg wurde von Mannschaft und Fans ausgiebig gefeiert. Im Anschluss ging es wieder auf die Terrasse vor dem Vereinsheim. Her mit dem Bier – aber nicht für mich! Ich blieb standhaft und schaute den anderen beim Trinken zu. Um Schwung in die Truppe zu bringen, verloste ich zwei mitgebrachte Bücher, wenig später wurde der Linienbus geentert, der uns zurück zum Hauptbahnhof bringen sollte.

Skins ließen sich am gestrigen Nachmittag keine sehen, doch ein Mann suchte im Bus dann doch noch Stress. Keine Ahnung warum, aber der Typ war auf Krawall aus und versuchte als Einzelner die blau-weiße Truppe aus der Reserve zu locken. Das Ganze war – nicht zuletzt aufgrund der getankten Biere – auf des Messers Schneide, doch im entscheidenden Moment kam der Busfahrer herbei und meinte nur ganz locker: „Ey echt Jungs, so kann ich vorn nicht arbeiten! Sind wir hier im Kindergarten, oder was?“ Man verständigte sich aufs Weiterfahren, und zum Glück verließ der stresssuchende Typ zwei Haltestellen vorher den Bus.

Seine Schlägerkumpels hatte er auch nicht vorbeigeschickt. Somit wurde auf dem Bahnhofsvorplatz noch eine Dreiviertelstunde gechillt und gequatscht. Die ausgelassene Grundstimmung erinnerte mich an die Fahrten zu Beginn der 1990er Jahre in NRW. Und als sich zwei Fans (Männchen und Weibchen) überglücklich auf den Beton legten und umarmten, war das fehlende Puzzlestück gelegt. Bingo! Wer hatte sich damals nicht alles beim Warten am Bahnhof Leverkusen-Mitte auf den Asphalt und ins Kraut gelegt! Damals traten einen die Polizisten nicht jede Minute auf die Füße. Man ging strullern und ne Pilsette holen, wie es einem passte.

Der gestrige Ausflug toppte das Ganze aber. Mehr Freiheit konnte man als Fußballfans nicht genießen. Und gab es Stress mit den „Südfeuer“-Fans? Nicht die Spur! Zum Abschied wünschten ein paar Brandenburger sogar noch alles Gute und bedankten sich fürs Kommen. Dass ich das – nach dem richtig beschissenen Novembertag 2010 – dort einmal erleben durfte. Respekt und beste Grüße nach Brandenburg!

Fotos: Marco Bertram